Montag, 16. November 2015

Darmkrebs und Schwerbehinderung

Darmkrebs und Schwerbehindertenrecht

Nach landläufiger Meinung gilt als schwerbehindert, wer im Rollstuhl sitzt oder unter einer geistigen Behinderung leidet. Tatsächlich liegt eine Schwerbehinderung jedoch – zumindest im juristischen Sinne – auch bei zahlreichen anderen psychischen oder physischen Funktionsbeeinträchtigungen vor, unter anderem bei Darmkrebs. Da vielen Betroffenen dieser rechtliche Aspekt ihrer Erkrankung nicht bewusst ist, erscheinen ein paar Informationen zu diesem Thema angebracht. 
Allgemeine Informationen 
Juristischer Dreh- und Angelpunkt des Schwerbehindertenrechts ist das neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX), das sich mit der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen am sozialen und wirtschaftlichen Leben befasst.

Insbesondere Personen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 (näheres hierzu weiter unten) stehen danach unter besonderem gesetzlichen Schutz. Sie genießen beispielsweise einen besonderen Kündigungsschutzes im Arbeitsrecht und haben Anspruch auf zusätzlichen bezahlten Urlaub (in der Regel fünf Arbeitstage im Jahr). Zur Sicherung eines angemessenen Platzes im Arbeitsleben können im Einzelfall neben berufsfördernden Rehabilitationsleistungen auch besondere Hilfen für Schwerbehinderte notwendig sein (z.
 B. die behinderungsgerechte Umrüstung einer Maschine), wofür besondere Geldleistungen der Bundesagentur für Arbeit sowie der Hauptfürsorgestellen vorgesehen sind. Ferner haben Schwerbehinderte  je nach Art ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung  auch Anspruch auf einen sogenannten „Nachteilsausgleich“, z. B. in Form von Steuererleichterungen (Behinderten-Pauschbetrag), unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr, Vergünstigungen bei der Kraftfahrzeugsteuer, Parkerleichterungen und die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht.

Zum Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft wird von den örtlichen Versorgungsämtern auf Antrag ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt. In diesen werden ggf. auch sogenannte Merkzeichen eingetragen, die einen Anspruch auf bestimmte Nachteilsausgleiche verbriefen. Detaillierte Informationen zum Antragsverfahren und den einzelnen Merkzeichen erhält man über die örtlichen Versorgungsämter.
Personen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber mindestens 30 können Schwerbehinderten gleichgestellt werden, wenn sie ohne die Gleichstellung keinen Arbeitsplatz erhalten oder ihren jetzigen Arbeitsplatz nicht behalten können. Über die Gleichstellung entscheidet die Agentur für Arbeit. Gleichgestellte können für die Eingliederung in das Arbeitsleben die gleichen Hilfen in Anspruch nehmen wie Schwerbehinderte. Ausgeschlossen sind jedoch Zusatzurlaub und unentgeltliche Beförderung.
Ein Großteil der Streitfälle aus dem Schwerbehindertenrecht kreist um die Frage, wie hoch der Grad der Behinderung im Einzelfall ist, bzw. ob einem Schwerbehinderten (infolgedessen) ein bestimmter Nachteilsausgleich zusteht oder nicht.

Grad der Behinderung (GdB) und Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
Von dem Grad der Behinderung (GdB) ist die ebenfalls in Gradzahlen zu bemessende sogenannte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu unterscheiden. MdE ist ein Terminus aus der gesetzlichen Rentenversicherung und hat Bedeutung für einen Anspruch auf Berufsunfähigkeits-, bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente. MdE und GdB werden zwar nach den gleichen Grundsätzen bemessen; sie unterscheiden sich jedoch dadurch, dass die MdE kausal (auf die Folgen einer bestimmten Schädigung bezogen) und der GdB final (auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache bezogen) zu verstehen ist. Beide Begriffe haben die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkung im allgemeinen Erwerbsleben zum Inhalt. Mit anderen Worten: MdE und GdB sind ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens.

Zu beachten ist:

Aus dem GdB/MdE-Grad ist nicht auf das Ausmaß der Leistungsfähigkeit zu schließen. GdB und MdE sind grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen, es sei denn, dass bei Begutachtungen im sozialen Entschädigungsrecht ein besonderes berufliches Betroffensein berücksichtigt werden muss.

Die Anerkennung von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit durch einen Rentenversicherungsträger, bzw. die Feststellung einer Dienst- oder Arbeitsunfähigkeit erlauben keine Rückschlüsse auf den GdB/MdE-Grad, wie umgekehrt aus dem GdB/MdE-Grad nicht ohne weiteres auf bestimmte Leistungsvoraussetzungen in anderen Rechtsgebieten geschlossen werden kann.

Grundsätzliches zur Bemessung eines GdB/MdE-Grades
GdB und MdE setzen stets eine regelwidrige Abweichung des körperlichen und seelischen (Funktions-) Zustandes von dem für das jeweilige Lebensalter typischen Zustand voraus. Altersbedingte physiologische Veränderungen sind daher bei der GdB/MdE-Beurteilung nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, d. h. für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Hierzu gehören zum Beispiel:
  • die allgemeine altersbedingte Verminderung der körperlichen Leistungsfähigkeit (weniger Kraft, Ausdauer, Belastbarkeit),
  •  die allgemeine Verminderung der Leistungsbreite des Herzens und der Lungen durch physiologische Gewebealterung,
  •  eine leichte Verminderung der Beweglichkeit der Gliedmaßen und der Wirbelsäule,
  • das Nachlassen von Libido oder Potenz,
  • das altersentsprechende Nachlassen des Gedächtnisses, der geistigen Beweglichkeit und der seelischen Belastbarkeit 
sowie
  • die altersspezifischen Einschränkungen der Seh- und Hörfähigkeit.
Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, d. h. Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können (z. B. Geschwülste; stärkere, nicht als altersentsprechend beurteilbare Bewegungseinschränkungen durch Arthrosen oder über das Alterstypische wesentlich hinausgehende hirnorganische Abbauerscheinungen) bei der MdE/GdB-Beurteilung zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten" (z. B. "Altersdiabetes", "Alters-Star") bezeichnet werden.


Bemessung eines MdE/GdB-Grades im Einzelfall
Der GdB wird in Zehnergraden, die MdE in einem bestimmten Vom-Hundert-Satz ausgedrückt. Dies erklärt sich daraus, dass GdB und MdE ihrer Natur nach nicht präzise, sondern stets nur annähernd bestimmt werden können. Eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung von GdB und MdE spielt die sogenannte GdB/MdE-Tabelle. Diese ist Bestandteil der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) und beinhaltet zahlreiche Krankheitsbilder bzw. Funktionsstörungen mit entsprechend zugeordneten GdB/-MdE-Werten.

Berücksichtigung von Schmerzen und seelischen Begleiterscheinungen
Bei der GdB/MdE-Beurteilung sind auch seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Dabei sind übliche seelische Begleiterscheinungen (z. B. Entstellung des Gesichts, Verlust der weiblichen Brust) in den Graduierungen der GdB/MdE-Tabelle bereits mit enthalten. Gehen seelische Begleiterscheinungen jedoch erheblich über die dem Ausmaß der organischen Veränderungen entsprechenden „normalen“ seelischen Begleiterscheinungen hinaus, so ist eine höhere GdB/MdE-Bewertung vorzunehmen. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen in diesem Sinne sind in der Regel aber erst dann anzunehmen, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, dass eine spezielle ärztliche Behandlung dieser Störungen  insbesondere eine Psychotherapie  erforderlich ist.

Ähnliches gilt für die Berücksichtigung von Schmerzen. Die in der GdB/MdE-Tabelle an-gegebenen Werte schließen die üblicherweise vorhandenen Schmerzen bereits mit ein und berücksichtigen auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände. In den Fällen, in denen nach dem Sitz und dem Ausmaß der pathologischen Veränderungen eine über das übliche Maß hinausgehende 
 und eine spezielle ärztliche Behandlung erfordernde  Schmerzhaftigkeit anzunehmen ist, können höhere Werte angenommen werden. Dies gilt insbesondere bei Kausalgien und bei stark ausgeprägten Stumpfbeschwerden nach Amputationen (Stumpfnervenschmerzen, Phantomschmerzen); ein Phantomgefühl allein bedingt keine zusätzliche GdB/MdE-Bewertung.


Mehrere Funktionsstörungen und Gesamt-GdB/MdE

Liegen bei einer Person mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, ist ein sogenannter „Gesamt-GdB/MdE-Grad“ zu bilden. In § 69 Absatz 3 SGB IX heißt es hierzu: „Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. […]“

Zu der Art und Weise, wie ein derartiger Gesamt-GdB/MdE-Grad zu ermitteln ist, heißt es unter Punkt 19 der AHP:

(1) Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar […] Einzel-GdB/MdE-Grade anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB/MdE-Grades durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB/MdE-Grades ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen sind unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der Tabelle feste GdB/MdE Werte angegeben sind. […]

(3) Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB/MdE-Grades ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB/MdE-Grad bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB/MdE-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. […]

(4) Von Ausnahmefällen (z.
 B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB/MdE-Grad von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB/MdE- Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Geltungsdauer einer GdB/MdE-Feststellung
GdB und MdE setzen eine nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörung voraus, sondern eine, die sich über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten erstreckt. Dementsprechend ist bei abklingenden Gesundheitsstörungen der Wert festzusetzen, der dem über sechs Monate hinaus verbliebenen  oder voraussichtlich verbleibenden  Schaden entspricht.
Schwankungen im Gesundheitszustand bei längerem Leidensverlauf wird mit einem Durchschnittswert Rechnung getragen. Das bedeutet: Wenn bei einem Leiden  über einen Zeitraum von sechs Monaten nach Krankheitsbeginn hinaus  der Verlauf durch sich wiederholende Besserungen und Verschlechterungen des Gesundheitszustandes geprägt ist (Beispiele: Magengeschwürsleiden, chronische Bronchitis, Hautkrankheiten, Anfallsleiden), dann können die zeitweiligen Verschlechterungen im Hinblick auf die dann anhaltenden Auswirkungen auf die gesamte Lebensführung nicht als vorübergehende Gesundheitsstörungen betrachtet werden. Dementsprechend muss in solchen Fällen bei der GdB/MdE-Beurteilung von dem „durchschnittlichen" Ausmaß der Beeinträchtigung ausgegangen werden. 
Stirbt ein Antragsteller innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt einer Gesundheitsstörung, so ist für diese Gesundheitsstörung der GdB/MdE-Grad anzusetzen, der nach ärztlicher Erfahrung nach Ablauf von sechs Monaten nach Eintritt der Gesundheitsstörung zu erwarten gewesen wäre. Fallen Eintritt der Gesundheitsstörung und Tod jedoch zusammen, kann ein GdB/MdE-Wert nicht angenommen werden. Eintritt der Gesundheitsstörung und Tod fallen nicht nur zusammen, wenn beide Ereignisse im selben Augenblick eintreten. Dies ist vielmehr auch dann der Fall, wenn die Gesundheitsstörung in so rascher Entwicklung zum Tode führt, dass bei natürlicher Betrachtungsweise Eintritt der Gesundheitsstörung und Tod einen einheitlichen Vorgang darstellen.

Gesundheitsstörungen, die erst in der Zukunft zu erwarten sind, sind bei der GdB/MdE-Beurteilung nicht zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit des Abwartens einer Heilungsbewährung bei Gesundheitsstörungen, die zu Rezidiven neigen, stellt eine andere Situation dar; während der Zeit des Abwartens einer Heilungsbewährung ist ein höherer GdB/MdE-Wert, als er sich aus dem festgestellten Schaden ergibt, gerechtfertigt.

Weiterführende Links
Weitere Informationen zum Thema „Schwerbehinderung“ und „GdB“ finden sich im Internet, beispielsweise unter

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